Oralität in der Ernährung: Verstehen und Begleitung von Essstörungen
Die oralen Ernährungsstörungen (OES) betreffen 25 bis 45% der Kinder mit typischer Entwicklung und bis zu 80% der Kinder mit Behinderung. Sie äußern sich durch Schwierigkeiten beim Essen: Verweigerung bestimmter Nahrungsmittel, Hyperselektivität, Schwierigkeiten beim Kauen oder Schlucken. Dieser umfassende Leitfaden stellt die Mechanismen, Warnsignale und Begleitungsstrategien vor.
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TexturentabelleOrofaziale Praxien
Mahlzeit-Hilfsmittel
📋 In diesem Artikel
Was ist orale Ernährung?
Die orale Ernährung bezeichnet die Gesamtheit der Funktionen des Mundes im Bereich der Ernährung: Saugen, Kauen, Schlucken, aber auch das Geschmacksvergnügen und die psycho-affektive Beziehung zur Nahrung. Es ist eine komplexe Funktion, die sensorische, motorische, kognitive und emotionale Kompetenzen umfasst.
Die oralen Ernährungsstörungen (OES) umfassen alle Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Ernährung, die nicht durch eine organische Krankheit erklärt werden können. Sie können sich sehr unterschiedlich manifestieren: vom Kind, das kategorisch alles ablehnt, was nicht püriert ist, bis zu dem, das nur weiße Lebensmittel isst, oder dem, das bei dem kleinsten Stück würgt.
Normale Entwicklung der Oralität
Die Oralität entwickelt sich sehr früh, bereits im fötalen Leben: Das Baby schluckt Fruchtwasser und saugt am Daumen. Diese primäre Oralität bereitet die nach der Geburt notwendigen Kompetenzen vor.
| Alter | Stadien der Ernährungsentwicklung |
|---|---|
| Geburt | Saugreflex, ausschließlich flüssige Nahrung (Milch) |
| 4-6 Monate | Beginn der Diversifizierung, glatte Texturen (Pürees) |
| 6-8 Monate | Dickere Texturen, erste schmelzende Stücke |
| 8-12 Monate | Seitliches Kauen, Finger Foods, Beginn der Autonomie |
| 12-18 Monate | Abwechslungsreiche Ernährung, gemischte Texturen |
| 18-24 Monate | Quasi-normale Ernährung, isst wie die Familie |
| 2-6 Jahre | Normale Phase der Nahrungsneophilie (Ablehnung des Neuen) |
Arten von Oralitätsstörungen
Sensorische Störungen
- Orale Hypersensibilität: übertriebene Reaktionen auf Texturen, Temperaturen, Geschmäcker
- Hyposensibilität: Suche nach starken Empfindungen, sehr würzige oder knusprige Lebensmittel
- Taktile Abwehr: Verweigerung bestimmter Texturen im Mund oder an den Händen
- Hyperselektivität: sehr eingeschränktes Nahrungsrepertoire
Motorische Störungen (motorische Dysoralität)
- Kauschwierigkeiten: kaut nicht, schluckt alles ganz oder behält es im Mund
- Schluckschwierigkeiten: Verschlucken, Blockaden
- Störungen der orofazialen Praxien: ineffektive Bewegungen der Zunge/Lippen
Verhaltensstörungen
- Schwere Nahrungsneophilie: Verweigerung aller neuen Lebensmittel
- Vermeidungsverhalten: wendet den Kopf ab, stößt weg, weint
- Konfliktreiche Mahlzeiten: Machtkämpfe, systematische Verweigerung
Ursachen und Risikofaktoren
Die OES sind multifaktoriell. Mehrere Ursachen können sich kombinieren:
| Ursprung | Beispiele |
|---|---|
| Medizinisch | Frühgeburt, Reflux, Allergien, chronische Krankheiten |
| Sensorisch | Hypersensibilität (häufig bei ASS), sensorische Verarbeitungsstörungen |
| Motorisch | Hypotonie, neurologische Störungen, motorische Behinderung |
| Psycho-affektiv | Negative Erfahrungen (Sonde, Erbrechen), Angst |
| Umweltbedingt | Verspätete Diversifizierung, monotone Ernährung, übermäßiger Druck |
⚠️ Risikogruppen
OES sind besonders häufig bei ehemaligen Frühgeborenen (Sondenernährung), Kindern mit ASS (häufige Hyperselektivität), Kindern mit Behinderung (motorische Störungen) und Kindern, die frühe Krankenhausaufenthalte mit negativen oralen Erfahrungen erlebt haben.
Warnsignale
Beim Säugling
- Schwierige, lange oder unzureichende Stillzeiten
- Starker Reflux, häufiges Erbrechen
- Verweigerung des Übergangs zum Löffel
- Blockade bei der Diversifizierung
- Gewichtskurve, die stagniert
Bei älteren Kindern
- Sehr begrenztes Nahrungsrepertoire (<20 akzeptierte Lebensmittel)
- Verweigerung einer ganzen Kategorie (Gemüse, Fleisch, Texturen...)
- Würgereiz oder Erbrechen beim Anblick oder Berühren bestimmter Lebensmittel
- Sehr lange Mahlzeiten (>45 Minuten) oder sehr kurze (knabbert)
- Übermäßiges Sortieren auf dem Teller, starre Ritualisierung
- Isst nur glatte Texturen über 2 Jahre hinaus
- Systematische Konflikte bei den Mahlzeiten
Bewertung und Behandlung
Die Behandlung von OES ist multidisziplinär:
- Kinderarzt: medizinische Ursache ausschließen, Wachstum überwachen
- Logopäde: Oralitätsstörungen bewerten und behandeln
- Ergotherapeut: sensorische Störungen, Positionierung bei Mahlzeiten
- Psychologe: Angstkomponente, Essstörungen
- Diätassistent: ernährungsphysiologisches Gleichgewicht trotz Einschränkungen
Der Logopäde bewertet die sensomotorischen Kompetenzen (Saugen, Kauen, Schlucken, Sensibilität), beobachtet eine Mahlzeit und erhebt die Ernährungsgeschichte des Kindes.
Interventionsstrategien
🌡️ Progressive Desensibilisierung
Das Kind sehr progressiv neuen oder gefürchteten Lebensmitteln aussetzen, dabei die Schritte befolgen: daneben tolerieren → berühren → zum Mund führen → lecken → probieren → essen. Jeder Schritt wird gewürdigt. Niemals zwingen.
🎮 Spielerischer und sensorischer Ansatz
Mit dem Essen spielen (außerhalb der Mahlzeiten): berühren, kneten, riechen ohne Verpflichtung zu probieren. Sensorische Manipulationsaktivitäten (Knetmasse, Sand, Matsch) zur Reduzierung der allgemeinen taktilen Abwehr.
🍽️ Ruhige Mahlzeitumgebung
Ruhige Mahlzeiten, ohne Bildschirm, mit der Familie. Kein Druck zu essen. Anbieten ohne zu zwingen. Kleine Portionen servieren. Kommentare darüber vermeiden, was das Kind isst oder nicht isst.
📈 Progression der Texturen
Eine logische Progression befolgen: flüssig → glatt → gehackt → schmelzende Stücke → feste Stücke → gemischt. Das Tempo des Kindes respektieren. Parallel das Kauen durch Praxie-Übungen trainieren.
💪 Orofaziale Motorik trainieren
Orofaziale Praxie-Übungen: Bewegungen von Zunge, Lippen, Wangen. Kau-Übungen (beißen und kauen geeigneter Objekte). Orale sensorische Stimulationen.
Unsere Tools zum Download
📊 Tabelle der Nahrungstexturen
Klassifizierung der Texturen mit Beispielen von Lebensmitteln für jede Kategorie. Leitfaden für die Progression der Diversifizierung.
Herunterladen👅 Übungen orofaziale Praxien
Illustrierte Übungen zur Arbeit an Bewegungen von Mund, Zunge, Lippen. Nützlich für das Kauen und die Artikulation.
Herunterladen🍽️ Mahlzeit-Hilfsmittel
Visuelle Hilfsmittel zur Strukturierung der Mahlzeit: Sequenzen, Wahlmöglichkeiten, positive Verstärkung. Hilft, Angst bei den Mahlzeiten zu reduzieren.
Herunterladen📋 Ernährungstagebuch
Tool zur Verfolgung von Mahlzeiten und Fortschritten. Zum Notieren akzeptierter, verweigerter Lebensmittel und getesteter Neuheiten.
HerunterladenHäufige Fragen
Eine gewisse Selektivität ist normal zwischen 2 und 6 Jahren (Nahrungsneophilie). Sie wird besorgniserregend, wenn das Repertoire sehr eingeschränkt ist (<20 Lebensmittel), wenn es Auswirkungen auf das Wachstum gibt oder wenn es erhebliches Leiden verursacht. Konsultieren Sie, wenn sich die Situation nicht verbessert oder verschlechtert.
Nein. Zwang ist kontraproduktiv: Er erhöht die Angst und verstärkt die Verweigerung. Der empfohlene Ansatz ist anbieten ohne zu zwingen, das Kind regelmäßig Lebensmitteln auszusetzen (auch wenn es sie ablehnt) und eine ruhige Mahlzeitumgebung zu schaffen. Zwang verschlimmert Oralitätsstörungen.
Gelegentliches Würgen ist normal beim Erlernen neuer Texturen. Es wird besorgniserregend, wenn es systematisch, sehr intensiv (Erbrechen) ist oder über 2-3 Jahre hinaus anhält. Es kann eine orale Hypersensibilität anzeigen, die eine Behandlung erfordert.
Zunächst den Kinderarzt, um eine medizinische Ursache auszuschließen. Dann den Logopäden, der auf Oralität spezialisiert ist, für Bewertung und Behandlung. Je nach Fall können ein Ergotherapeut (sensorische Störungen), ein Psychologe (Angst, Essstörungen) oder ein Diätassistent die Behandlung ergänzen.
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